Messiaen spielt Messiaen

nach der Übersetzung von Roman Summereder

Olivier Messiaen: Livre d´Orgue (1951)

Messiaen hat 1968 anläßlich einer Brüsseler Aufführung seines anhin vorliegenden Orgelschaffens für jedes Werk einen Einführungstext verfasst; hier folgt sein Text zum Livre d´orgue in deutscher Übersetzung.

I - Reprises par interversion (Umkehrbare Wiederholungen) [5735 KB]

Drei Hindu- Rhythmen - pratapaçakhara, gajahampa, sarasa - werden als „rhythmische Personen“ behandelt. Was aber ist eine „rhythmische Person“ ?
Stelle wir uns eine Theaterszene mit drei Akteuren vor: der erste ist aktiv und beherrscht die Szene, der zweite ist passiv und wird von der ersten bewegt, der dritte sieht zu und greift nicht ein. Pratapaçakhara, der Angreifer, augmentiert um jeweils ein 32tel, Gajahampa, der Angegriffene, diminuiert um jeweils ein 32tel, Sarasa bleibt unverändert. Jedem Rhythmus ist eine bestimmte Klangfarbe (Registrierung) zugeteilt. Die klangliche Einkleidung der Rhythmen erscheint durch die Effekte der Klangfarben fragmentiert, wie ein zerlöstes Puzzle. Der Satz ist in vier Abschnitte gegliedert, auf die Normalgestalt folgen die Umkehrungen, im 2. und 3. Abschnitt erscheint dieselbe Musik in Form eines Fächers: von den Rändern zur Mitte hin bzw. von der Mitte zu den Rändern, im 4. Abschnitt ertönt dieselbe Musik schließlich im Krebsgang.

II – Pièce en trio (Triostück) [2156 KB]

Das Stück ist aus variierten, „umgemünzten“ Hindu-Rhythmen gebaut, die als irrationale Notenwerte behandelt werden. Es wird als Trio dargestellt, weil es von einem großen Geheimnis spricht, das wir nur unvollkommen begreifen können: die Heilige Dreifaltigkeit. Man spiele es an jenem Sonntag, an dem dieses Fest gefeiert wird.


III - Les Mains de l´abîme (Die Hände aus dem Abgrund) [1207 KB]

Das Stück wird in Bußzeiten gespielt und wurde in den Hochalpen beim Anblick der schrecklichen Schluchten des Internet, der reissenden Mäander der Romanche, der schwindelerregenden Abgründe komponiert. Symbolisch erscheinen diese Abgründe wie ein großer Anruf Gottes aus dem menschlichen Elend.
Am Beginn und Schluß des Stücks: äußerstes Fortissimo der vollen Orgel – Schrei aus dem Abgrund.
In der Mitte: höchste und tiefste Register werden ohne Vermittlung übereinandergestellt und ergeben einen (leeren) räumlichen Eindruck. Tiefe Lage: Bitte aus der Tiefe, aus dem Schoß der Erde hervorkommend, mit Voix humaine, Tremulant, Nazard, Bourdon 16´ (ganz von fern der 32´ ). Hohe Lage: Tierce und Piccolo allein, unwirklicher Klang, Antwort Gottes - luftiger, zarter Klang, fern, verborgen.

„Ein Abgrund ruft den anderen“ heißt es in Ps. 42. „Der oben ist jener unten“ sagt Hermes Trimegistes. Trostlosigkeit und Trost – ein Abgrund in zweifacher Hinsicht.


IV - Chants d´oiseaux (Vogelgesänge) [5179 KB]

Das Stück wurde inmitten der Vögel im Wald von Saint-Germain-en-Laye geschrieben. Es erklingen aber auch Vogelgesänge, die auf den Perrin-Gründen von Fuligny (Aube) und in der „Branderaie“ von Gardépée (Charente) aufgezeichnet wurden. Es korrespondiert mit dem Einbruch des Frühlings und der Wiederkehr der Singvögel und kann daher zur Osterzeit gespielt werden. Man hört die phantasiereichen Strophen der Amsel, die sanfte Virtuosität des Rotkehlchens, die klaren und bestimmten Rufe der Singdrossel (mit Plein jeu und Clairon, mit dem Nachdruck von Beschwörungsformeln). Das Stück beginnt um 4 h nachmittags; später, nach langsam wachsender Dunkelheit bei Einbruch der Nacht, beginnt die Nachtigall mit ihrem großen Solo: geheimnisvolle und zarte Töne, die sich mit dem charakteristischen tikotikotiko-Refrain mischen.

V – Pièce en trio (Triostück) [8405 KB]

Wiederum am Dreifaltigkeitssonntag zu spielen. Gedanklich gefasst wurde das Stück während Fahrten und Aufenthalten im Oisans, rund um das La Grave-Massiv, in Kontemplation versunken vor den Gletschern des Rateau, der Meije und des Tabuchet. Dies erklärt den Charakter des Stücks, der rüde und nostalgisch zugleich ist. Dem führenden Melodiezug im Pedal eignet eine melancholische Note. Die Rhythmik korrespondiert mit der Geometrie der Berge, Felsen und Gipfel. Die harte Klarheit der Registrierung ist hergeleitet von den Blendungen der Sonne und des Schnees.
In der Oberstimme: Umkehrungen aus drei Hindu-Rhythmen, die als rhythmische Personen dargestellt werden: Rangapradepaka (augmentiert mit jeder Wiederholung), Caççari (diminuiert mit jeder Wiederholung), Sama (bleibt unverändert).
In der Unterstimme: Umkehrungen dreier anderer Hindu-Rhythmen: Laya (augmentiert), Niççanka (diminuiert), Bhagna ( bleibt unverändert).
Pedalstimme: sie ist aufgrund der Registrierung mittig (4´ und Plein jeu) und führend.

In besonderer Weise hört man:Laya: vergrößert um 7 32tel je Dauer bei jeder Wiederholung, dies führt zu Tönen von extrem langer Dauer.Caççari: leicht erkennbar aufgrund der acht Jamben (kurz-lang), vergrößert um eine 32tel bei jeder Wiederholung.


VI - Les Yeux dans les roues (Die Augen in den Rädern) [10924 KB]

Wirbelndes Fortissimo, die Vision des Hesekiel in allen Details hervorrufend: Sturmwind, Feuermassen, Gebrüll von Wasserfällen; Räder, ringsum mit Augen bedeckt, drehen sich und drängen in alle Richtungen. Unter den göttlichen Symbolen tritt der „Geist des lebendigen Wesens“ deutlich hervor. Das Stück soll also zu Pfingsten gespielt werden. Im Pedal: Dauernreihen in sechsmaliger Abfolge und sechs verschiedenen Permutationen.


VII - Soixante-Quatre durées (Vierundsechzig Tondauern) [11021 KB]

Gemeint sind 64 chromatische Tondauern, von einem 32tel bis zur einer Longa. Sie werden in Gruppen zu vier Dauern behandelt, einerseits in gerader Bewegung, andererseits im Krebsgang. Die beiden Zeit-Schichten treffen einander in der Mitte („rhythmischer Kanon“). Die Dauernwerte werden akkordisch im Manual sowie als Doppelpedal dargestellt und geführt. Das Stück entstand in den Wiesen um Petichet (im Tal der Isère, bei Grenoble. Anm.: Messiaen besaß dort ein Sommerhaus). Die Dauernreihen werden mit Vogelstimmen „bevölkert“; es sind teils stilisierte Vogelstimmen, da und dort wird man aber bestimmte Vögel erkennen: Kohlmeise, Specht, Amsel, Singdrossel, Nachtigall, Grasmücke.

(Übersetzung von Roman Summereder)

Messiaen spielt Messiaen

diesen begeisterten Brief schrieb Olivier Messiaen wenige Wochen nach seiner selbst durchgeführten Uraufführung am 23.04.1953 auf der Walcker-Orgel in Stuttgart, Villa Berg.

++++ Olivier Messiaen spielt Olivier Messiaen! .... und das zu einer Zeit als man wahrlich in Deutschland andere Töne von der Orgel erwartete. Bei der Uraufführung seiner Orgelkomposition Livre d'Orgue fand Olivier Messiaen zu seiner vollen Zufriedenheit ein Instrument vor, das ihn von Herzen begeisterte: Die Walcker-Orgel in der Villa Berg (Opus 2986) im Rundfunk Stuttgart. Die hier gezeigte Orgelmusik veranlasste Olivier Messiaen den abgebildeten Brief an Werner Walcker-Mayer zu schreiben.

Hier nun die einzelnen Sätze in MP3-Qualität:
Livre d'Orgue Satz 1 - Wiederholungen [5735 KB]
Livre d'Orgue Satz 2 - Pieces en trois [2156 KB]
Livre d'Orgue Satz 3 - Die Hände aus dem Abgrund [1207 KB]
Livre d'Orgue Satz 4 - Chant du Oissaut - Gesänge der Vögel [5179 KB]
Livre d'Orgue Satz 5 - Piece en Trio [8405 KB]
Livre d'Orgue Satz 6 - Die Augen in Tränen [10924 KB]
Livre d'Orgue Satz 7 - Son saunt carte durie - Verarbeitung im Spiegelkanon [11021 KB]