Cameron in Deutschland

Gedanken zu gegenwärtigen Entwicklungen

Derzeit tummelt sich der "legendäre" Organist Cameron Carpenter, 30 Jahre alt und geborener Pennsylvanier, auf deutschen Orgelbänken. Er lässt bei Interviews so einige merkwürdige Dinge fallen, die man aber alle gleich wieder vergessen sollte, denn intellektuell geben US-Amerikaner nicht viel her. Alles was von dorther gesagt wird, ist für US-amerikanische Medien bestimmt, und da zählt nur pink, schrill, laut und die drei auswendig gelernten Sätze irgendeiner Biographie, die keiner kennt und mit denen man daher überraschen kann.
Zunächst ist zu sagen, dass Carpenter zweifellos einer der besten Orgelvirtuosen weltweit und gegenwärtig sein dürfte. Jeder kann sich über YouTube davon überzeugen. Aber, und das sollte zu denken geben, es handelt sich bei ihm eben nur um Virtuosität. Die ganze Wärme und Intellektualität eines Ton Koopmann, um nur ein Beispiel zu nennen, fehlt ihm gänzlich. Aber er ist dafür weitaus mehr Zirkuspferd und kann sicher die eine oder andere Bachfuge auch rückwärts a tempo spielen und gleichzeitig dabei mit zwei oder drei Cheeseburgern jonglieren..
Ich habe nie Begeisterung für die gymnastischen Turnkunststücke auf der Orgel, oder schlimmer noch, für das populistische Jazzgedudele und das damit sämig Machende der Orgel fürs Volk, die verzuckerte Aufbereitung für eigentlich Unwillige, gutheißen können, weil die Orgel für mich immer das Instrument der Transzendenz und damit das Instrument der Metaphysik schlechthin darstellt. Und die damit der Erhöhung und nicht der Verflachung dient.
Orgelmusik kann somit bereits (aktiv oder passiv) eine Art Religionsausübung darstellen, ohne, und das ist das Wichtigste, dass irgendein Text untergemischt wird, der mich auffordert irgendetwas zu glauben. Damit würde die Musik nämlich wieder als Magd für irgendeinen Propheten herhalten müssen. So aber ist die Orgelmusik, als reine Musik die Tür direkt ins Jenseits. (egal was man darunter versteht: manch einer meint seine tägliche Flasche Steinhäger, ich meine meine Orgel....)
Die Orgelmusik Johann Sebastian Bachs stellt andererseits ein seelisches Heilmittel dar, mit der ich in eine andere Realität eintreten kann. Der Todesverliebtheit Bachs jedoch, das wäre der untergemischte Text, kann ich beim besten Willen nicht folgen. Und die ist eine typisch nachmittelalterliche Folge die im Christentum seinen Ursprung hat.
Die Orgel hat aus diesem Grunde, nämlich am Festhalten in der philosophischen Metaphysik, ihren Glanzpunkt in der deutschen Romantik (Schelling, Fichte, Hegel). Die Deutsche Orgelromantik greift dort tief hinein. Der ästhetische Überbau bis zu Max Reger ist nur verständig in Zusammenhang mit der Deutschen Romantik.
Die Orgel hat überhaupt keinen Platz in der Moderne. Das sind alles hinzugedichtete Attribute oder neobarockes Kuckucksuhrengespiel, wie das des Peter Bares (der übrigens mich einmal gefragt hat, ob es denn auf dem Jahrmarkt nicht noch Effekte gebe, die er in seiner Sinziger Orgel verwenden könnte, er deutete diese aufblasbaren Papierschlangen an, und hat damit seine Orgelstrukturen des Aufblasens und des Jahrmarktes geoffenbart).
Die Moderne konnte nie in die Orgel greifen, weil in dieser Aura der Orgel eine tiefgreifende Rückwärtsgewandheit herrscht, die das nie zulassen würde. Die Postmoderne hat die Orgel subsummiert unter all die anderen niedlichen Spielereien, die unnötig aber ganz nett sind.
Dass Orgelspieler nach neuen Wegen der Interpretation suchen, dass Orgelbauer nach neuen Klängen suchen, hat mit modern überhaupt nichts zu tun. Dahinter steht ein Verlangen nach Ewigkeit. Man könnte tagelang über dieses Thema philosophieren wie einst Oswald Spengler in "Untergang des Abendlandes".
Erst wenn der Moment gekommen ist, wie das heute der Fall ist, dann werden solche Taschenspielertricks, wie die eines Cameron Carpenter, hochgelobtes Diskussionsmaterial. Man fällt dann nicht mehr vor dem Künstler auf die Knie, sondern vor dem Sportler. Der Turner ist dann plötzlich dem innigen Künstler und warmherzigen Interpreten weit voraus, weil er den Nerv der Zeit besser getroffen hat, als es eine erstarrte Gilde an Organisten und Orgelbauern in der Gegenwart vermochten.
Beides, weder die Erstarrung noch die Heilsbotschaften des Seiltänzers werden uns Erlösung bringen, aber die haben wir bitter nötig.
gerhard@walcker.com 31.3.2012