Oscar Walcker "Bukarest"



Oscar Walcker "Erinnerungen eines Orgelbauers"

Bukarest - 1939

In Sofia wurde im Jahre 1938 eine Konzertorgel mit vier Manualen und 70 Stimmen aufgestellt. Die Hoffnungen, die ich auf das Aufblühen der Orgelmusik in Bulgarien gesetzt hatte, haben sich nicht erfüllt. Die wenigen Orgelkonzerte, die gegeben wurden, brachten dem Veranstalter beträchtliche Verluste, er will kein weiteres Risiko mehr eingehen. Die Miete für den Saal ist zu hoch, der Lebensstandard der Mittelschicht der Bevölkerung Sofias zu nieder, um die hohen Eintrittspreise zahlen zu können. Die Honorare und Reisekosten der ausländischen Organisten belasten den Konzertveranstalter außerordentlich. In Sofia selbst ist niemand, der Orgel spielen kann. So steht das schöne große Werk, von meiner Firma W. Sauer in Frankfurt/Oder erbaut, unbenützt und schläft seinen Dornröschenschlaf.

Die Millionenstadt Bukarest besitzt einen großen Konzertsaal: das Athenäum, in dem sich das musikalische und kulturelle Leben Bukarests abspielt. Schon seit Jahren bestand der Plan, in diesen Saal eine Orgel einzubauen. Ein Komitee, dem namhafte Personen der Bukarester Gesellschaft angehörten, wurde gegründet, um Sammlungen einzuleiten; diese brachten ein so gutes Ergebnis, daß an die Planung und Bestellung eines Orgelwerkes herangegangen werden konnte. Die rumänische Radiogesellschaft, die dann und wann Orgelmusik-Sendungen veranstaltete, hatte ein lebhaftes Interesse daran, ein Instrument zur Verfügung zu haben, das sie jederzeit benützen konnte.

Da die rumänischen orthodoxen Kirchen keine Orgeln besitzen, mußte für diese Übertragungen die Orgel aus der römisch-katholischen Kirche oder der deutschen Kirche gemietet werden. Die Vermieter forderten eine verhältnismäßig hohe Summe, die zu erhöhen immer wieder versucht wurde. Ein dem Rundfunk jederzeit zur Verfügung stehendes großes Orgelwerk war zur dringenden Notwendigkeit geworden. Die beiden deutschen Firmen Steinmayer & Co. in Ottingen und E. F. Walcker & Cie. in Ludwigsburg wurden aufgefordert, Dispositionen und Kostenanschläge einzureichen. Monatelang zogen sich die Verhandlungen hin. Eines Tages erhielten wir die Nachricht, daß der Musikbetreuer vom Radio Bukarest, Nicolai Radulescu, beauftragt sei, nach Deutschland zu reisen, die beiden Betriebe zu besichtigen und Verhandlungen wegen Abschluß eines Lieferungsvertrags zu führen. Radulescu kam zuerst nach Ludwigsburg. Unsere Besprechungen waren erfolgreich, und es kam zum Abschluß eines Vorvertrags. Radulescu hielt es nicht mehr für nötig, zu Steinmayer nach Ottingen zu fahren und kehrte wieder in die Heimat zurück. In Bukarest wurden seine Vorschläge angenommen. Die offizielle Bestellung für das Athenäum, ein Orgelwerk mit fünfzig Stimmen auf drei Manualen und einem Pedal zu bauen, ließ nicht lange auf sich warten.

Am 22. April 1939 fand die Einweihung des Instruments in Gegenwart einer zahlreich geladenen Zuhörerschaft statt. Franz Schütz, Direktor der Hochschule für Musik in Wien, wurde eingeladen, in dem Konzert zur Einweihung der Orgel zu spielen. Orgelkompositionen von Bach, ein Konzert von Händel mit Orchester und Orgel, sowie drei Chöre aus Händels „Messias" mit Orchester, Chor und Orgel kamen zum Vortrag. Besonders großer Beifall, der auch der Orgel galt, wurde dem Orgelspiel gezollt.

Die Orgelmusik hat seitdem auch in Bukarest ihren Platz im Konzertleben errungen. Der zweite Stützpunkt für das königliche Instrument im nahen Orient war gewonnen. Ein tüchtiger Organist, Leipziger Schule, Joh. Stadelmann, wirkt in der Deutschen Kirche. Er wird auch Organist im Athenäum werden. Vielleicht gelingt es, von Bukarest aus, die Frage des Orgelspiels auch in Sofia wieder in Gang zu bringen. In nicht ganz zwei Stunden erreicht man die Hauptstadt Bulgariens mit dem Flugzeug.

Ich hatte mich entschlossen, zur Übergabe und Einweihung der Orgel nach Bukarest zu fahren. Bei meiner Ankunft im Palacehotel in Bukarest wurde mir ein Brief ausgehändigt, der eine Einladung der Deutschen Gesandtschaft zu einem Frühstück enthielt, an dem achtzehn Herren und Damen der Bukarester Gesellschaft teilnahmen. Nach dem Einweihungskonzert folgten die gleichen Personen einer Einladung des Präsidenten der Athenäums-Gesellschaft, einer Excellenz, deren Namen mir leider entfallen ist, zum Abendessen.

Seltene Gastfreundschaft durfte ich während meines Aufenthalts erfahren. Einladung folgte auf Einladung. Nur ein Beispiel: Der Sonntag, den ich in Bukarest verlebte, brachte mir nicht weniger als drei Einladungen zum Mittagessen, von denen ich natürlich nur eine annehmen konnte. Der Nachmittag sah mich bei einer Kaffeevisite. Um neunzehn Uhr hatte ich einige Personen zum Abendessen in mein Hotel gebeten. Dann folgte ich um einhalbzehn Uhr einer Einladung des Botschaftsrats der Deutschen Gesandtschaft.

Als ich in Bukarest ankam, wurde mir gesagt: „Seien Sie froh, daß Sie nicht einige Tage früher gekommen sind, Sie wären dann vielleicht auf irgend einer Station liegen geblieben". Rumänien hatte vier Armeekorps mobilisiert, die Kriegsgefahr stand in drohender Nähe. Die Züge, sogar der Orientexpreß, wurden unterwegs geräumt, um Truppentransporten zu dienen. Die Ungarn hielten die Zeit für gekommen, in Siebenbürgen einzurücken, um sich des durch Friedensvertrag von 1918 verlorenen Landes wieder zu bemächtigen. Die Ungarn sollen versucht haben, das deutsche Element in Siebenbürgen zu einem Aufstand gegen Rumänien aufzuputschen, um dann die Gelegenheit zu benützen, in dieses Gebiet einzumarschieren. In diesem kritischen Augenblick gebot Berlin, wohin sich der rumänische Außenminister zu Verhandlungen begeben hatte, ein Halt, das all der Unruhe und den Gerüchten ein Ende bereitete. Als ich ankam, wurden die Reserven wieder entlassen und die Mobilmachung wieder aufgehoben.

Diese Mannschaften machten keinen guten Eindruck. Abgetragene Uniformen, auf dem Rücken einen großen Rucksack, Gewehr, das Seitengewehr und die Patronentasche waren die einzige Ausrüstung, die ich zu sehen bekam. Müde, vornübergebeugt, trotteten diese Soldaten daher. Aus Deutschland kommend, konnte ich diese ganze Situation nicht recht verstehen. Niemand wußte bei uns, daß sich zwischen Ungarn und Rumänien derartige, zu einer Entladung drängende Spannungen entwickelt hatten. Der für Deutschland und Rumänien so wichtige Wirtschaftsvertrag war unter Dach und Fach gekommen; ich stand einem Rätsel gegenüber. Ich suchte mich zu orientieren und bat Radulescu um Aufklärung über die mir völlig unklaren Verhältnisse. Von ihm, der ja durch seine Tätigkeit beim Rundfunk die Dinge kennen mußte, erhielt ich dann folgende Darstellung: Eines Tages verbreitete Radio Rom und auch Budapest die Nachricht (Radulescu hatte es selbst gehört) Deutschland und Ungarn beabsichtigen Rumänien anzugreifen. Diese Meldung und noch andere positive Nachrichten hätten dann den Anlaß zur Mobilmachung gegeben. Radulescu schilderte dann wie man, von Bukarest aus gesehen, die Lage auf dem Balkan beurteilte: Die Deutschen Siebenbürgens hätten nicht daran gedacht, diesen ungarischen Lockungen zu folgen, denn die deutsche Bevölkerung habe in Rumänien mehr Rechte und Freiheiten, als die fremden Bevölkerungssplitter in Ungarn. Die Bulgaren fordern von Rumänien die Dobrudscha, die Kroaten in Jugoslawien ihre Autonomie. Die Mazedonien wollten einen selbständigen Staat bilden, der dann letzten Endes, wie Albanien, unter italienische Oberhoheit kommen sollte. So schien der Balkan wieder zum Hexenkessel Europas werden zu wollen. Radulescu meinte, Rumänien werde bei einem kommenden europäischen Krieg wieder in diesen hineingezogen. Öl und Benzin seien heute in einem Krieg die wichtigsten Rohstoffe, um diese Frage werde sich alles drehen.





Mehrere Male war ich vor dem Krieg in Bukarest. Nun war ich erstaunt zu sehen, wie sich diese Stadt in amerikanischem Tempo verändert und entwickelt hatte. Hochhäuser türmen sich in den Straßen. Baublöcke werden abgerissen, Straßen durchgebrochen. Monumentalbauten entstehen.

Das königliche Schloß wird wesentlich erweitert, weiträumige Boulevards werden gebaut. Bukarest, das kleine Paris, ist zur Millionenstadt geworden. Nur noch selten sieht man typisch rumänische Bilder. Bei der Fahrt durch eine der großen Straßen sehe ich ein unvergeßliches Bild. Vor den Gittern eines Parks liegen, sitzen, stehen Zigeunerinnen jeden Alters, vor sich Körbe leuchtender Blumen. Die farbenfrohe Tracht der Frauen steht in wunderbarem Einklang zu den Farben der Blumen, ein Bild, das jedes Malerherz entzücken müßte. Selten nur sieht man in den Straßen die typisch bäuerliche Tracht oder das ländliche Fuhrwerk, das früher das Straßenbild beherrschte. Heute rasen Autos durch die Straßen; eine gewisse Nervosität der Taxiführer fällt auf, die Bremsen knirschen, jeden Augenblick Gefahr im Verzug; dann heult der Motor wieder auf, ein wahres Wunder, daß man heil aus dem Getriebe wieder herauskommt. Große Eleganz weisen die Droschken gerade nicht auf, außen noch einigermaßen gut lackiert, beherrscht aber im Innern der Dreck das Feld.

Der Zweck meiner Reise ist erfüllt, neue Verbindungen und Bekanntschaf ten sind angeknüpft, neue Aufträge sind in Aussicht. Vereinbarungen mit der größten Orgelbaufirma Rumäniens, Wegenstein & Söhne in Timisoara, über eine Zusammenarbeit auf dem rumänischen Arbeitsgebiet waren getroffen. So konnte ich wieder an die Heimreise denken. Die Erwartungen, die ich an diese Orgel knüpfte, daß sie der deutschen Orgelmusik Eingang in Rumäniens Hauptstadt verschaffte, hat sich vollauf erfüllt. Das große Erdbeben, welches Bukarest vor einigen Jahren traf, hat auch die Orgel im Athenäum beschädigt, sie wurde wieder hergestellt und in Gebrauch genommen. Das Bukarester Publikum beginnt immer mehr an der Orgelmusik Gefallen zu finden. So hat Fritz Heitmann (Berlin) im fünften Kriegsjahr zwei Orgelkonzerte dort gegeben. Die Berichte, die ich über diese Konzerte aus Bukarest erhielt, waren des Lobes voll; unter anderem hieß es: „als am zweiten Abend Heitmann ein Orgelkonzert von Händel für Orgel und Orchester spielte, sei sowohl das Publikum, als Orchester mit seinem Dirigenten Enescu tief ergriffen gewesen von der meisterhaften Begleitung Heitmanns". Durch diese Erfolge fühlte sich die Direktion des Königlichen Konservatoriums zu Bukarest veranlaßt, eine Orgel für diese Schule zu bestellen und Orgelmusik als neues Lehrfach aufzunehmen. Der Organist der Deutschen Kirche, Stadelmann, soll diese Klasse übernehmen. Es ist wohl anzunehmen, daß dadurch auch die Orgel und die Orgelmusik in Rumänien immer noch weitere Kreise erobern wird.