Heinz Wunderlich gestorben

Von dem Tode Heinz Wunderlichs heute zu erfahren, hat mich betroffen gemacht und erschreckt.
Selten hat man als Orgelbauer die Gelegenheit einmal intensiv Gedankenaustausch mit einem der ganz großen Meister der Orgelkunst zu führen. Und wenn dabei noch, wie im Falle Wunderlichs viel Zeit und ordentlich Altersweisheit in solche Gespräche mit einfliessen, dann ist das ein Gewinn, den man nie mehr vergisst.
So wird mir die Begegnung mit Heinz Wunderlich immer ein zentrales Erlebnis bleiben.
Im Stillen habe ich hin und wieder gehofft, den alten Mann noch einmal in seiner Hamburger Wohnung besuchen zu dürfen, eine Fuge oder Partita von ihm zu hören, oder nur seinen Ausführungen über Max Reger zu lauschen.
Das hat sich nicht erfüllt, aber ich habe noch ein paar Aufzeichnungen auf unseren Webseiten von ihm, die er übrigens auch mit Interesse zur Kenntnis nahm und diese Darstellungen ganz positiv aufgenommen hat.
gerhard@walcker.com

Arbeitsbesuch bei Heinz Wunderlich
Gedanken über den Klang der Berliner Domorgel und
über den Klang der Schnitger-Orgel in St. Jacobi, Hamburg

Als wir am Mittwoch den 18.Januar 2006 so gegen 11 Uhr ins Allerheiligste des großen Orgelmeisters Heinz Wunderlich eintreten, in seinen Orgelraum, in dem der 86jährige immer noch seine 6 Stunden täglich musiziert, da ist es uns, als würde man Max Reger, Karl Straube, Günther Ramin, Hans Henny Jahnn, Albert Schweitzer, Christhard Mahrenholz und ein bischen Johann Sebastian Bach persönlich begegnen. Heinz Wunderlich studierte 1938 in Leipzig bei Straube Orgelmusik, 1940 machte er Examen mit "Auszeichnung im virtuosen Orgelspiel", 1943 wurde er Dozent für künstlerisches Orgelspiel und kam 1958 nach Hamburg, wo er unmittelbar darauf Organist an der Schnitger-Orgel in St. Jacobi wurde. Von 1959 bis 1989 wirkte Wunderlich als Professor für Orgel und Improvisation an der Hamburger Musikhochschule. Gerne erinnert er sich an eine Einladung meines Vaters um 1955, zu der

er aber aus der DDR nicht ausreisen durfte. Ein Treffen mit Werner Walcker-Mayer fand 1965 in Hamburg statt. Einige Wochen später schickt der Firmenchef von Walcker seine beiden Söhne nach Hamburg, Wunderlich soll ihnen die Jacobi-Orgel zeigen. Mein Bruder und ich waren von dem schon damals berühmten Mann und seiner selbstlosen Art begeistert. Sechs Jahre zuvor war hier Albert Schweitzer zum letzten Male, ein Foto zeigt den alten Weisen mit dem jungen Wunderlich.

Heinz Wunderlich, als international bekannter deutscher Orgelspieler beruft sich in seiner Interpretationskunst auf Straube, und zwar auf eine Art "schwingender Intensität", die auf die Verwandtschaft von Violin- und Orgelspiel gründet. Als Gegenschule war wohl an die "artistische" Manier der Dupréschüler gedacht. Seine vor zwei Jahren eingespielte CD auf der Sauer-Orgel im Berliner Dom ist eine Huldigung an den großen Spätromantiker Reger, der im gleichaltrigen Straube seinen idealen Interpreten fand. Diese Einspielung dürfen wir mit Wunderlich gemeinsam in einzelnen Phasen anhören, wo auf die hervorragende Dynamik der "besten deutschen Orgel" hingewiesen wird, auf eine unüberbietbar eingestellte Walze, wie man es für Reger nirgendwo mehr sonst findet. Auf die dieser Dynamik unterlegte Intonation der Register, was Wunderlich hervorragend zu erläutern weiß, gründet sich das Geheimnis der großen spätromantischen deutschen Orgel. Und womit auch klar wird, dass wesentlich kleinere Orgeln Probleme damit haben, weil ihre Principale, um dieser Dynamik gerecht zu werden, zu schwach intoniert werden müssen. Nun hat man natürlich die Principale angemessen intoniert, was die dynamischen Übergänge wiederum vergröbert. Ein Problem der Spätromantik, das nur wenige kennen.Wunderlich würde die pneumatische Traktur dieser Orgel verbessern wollen, da Unterschiede in der Ansprach-Geschwindigkeit der verschiedenen Manuale sich beim Konzertieren bemerkbar machen, was für ihn sehr störend sei. Aber dieser Auffassung können wir uns nie anschließen, was zur Diskussion führt. Ein Denkmal, das schon seinem ursprünglichem Zustand entspricht, darf nicht einem momentanen, auch gerechtfertigtem, Bedürfnis angepasst werden, indem es aus der ursprünglichen Konsistenz herausgerissen wird. Dies waren und sind die Sünden von fundamentalen und verbohrten Ideologen, aber die auch ins Reich der toleranten Künste hinüber winken. Wir sollten immer ein klein wenig mehr Toleranz als historische Genauigkeit aufwenden. Aber wenn historische Genauigkeit bewerkstelligt werden kann durch Unterlassen, dann ist doch "lassen" besser als zweifelhafte Aktionen. Sicher ist auch, ein Umbau würde vielleicht minimalen Vorteil für den Interpreten einbringen, aber gleichzeitig einen unheilvollen Kreislauf starten, der nicht mehr gestoppt werden könnte. Man erinnere sich nur an den "Besen" des Zauberlehrlings, und Lehrlinge sind und bleiben wir allemale. Das "Lassen", das sollte als die geheimste und feinste Grundformel alles Restaurierens im Orgelbau Einzug halten, danach könnte man zwei Drittel aller Ideologen und Schriftgelehrten zum Teufel schicken.

Regers Orgelschaffen, so Heinz Wunderlich, stellt in seinen monumentalen Werken, wie die beiden Werke Fantasie und Fuge über B-A-C-H op 46 und Introduktion, Passacaglia und Fuge e-Moll op 127, erhöhte Ansprüche an den Interpreten, und es gibt nicht viele gute Interpreten, die jene Werke spielen können. Aber es gibt auch kleinere Schöpfungen, wie die Choralvorspiele oder die Zwölf Orgelstücke op.59, die einfacher zu bewerkstelligen sind. Reger, das ist etwas Anderes als die eingängigen Melodien der Franzosen, die wie die Pop-Musik eingängiger an die große Masse der Zuhörer gelangt.
In irgendeinem Booklett habe ich etwas vom "Faustischen" in Wunderlichs Interpretationsform gelesen, und stell

e fest, dass mit seinem klaren Bekenntnis zu Reger und der Straube-Schule, diese Verquickung von Romantik und Faust elementar vorhanden ist. Das "auf den Grund gehen " kann umschlagen in "es nicht mehr weitergeben können"; doch hier haben wir es mit Musik zu tun, und diese Musik wird weitergetragen in Form von Klangkonserven, von Schallplatten und OrgelCD's, die wiederum interpretationsfähig sind. Der Mensch Wunderlich hat sich bisher kaum schriftlich über seine Interpretationen und sein Leben geäußert, daher ist es eine große Genugtuung hiervon einen Zipfel erhascht zu haben. Etwas, das aus dem Leben dieser Musik herausragt, ein Kommentar dazu, eine Deutung.

Ein weiterer Kommentar Wunderlichs, nämlich einer zu seiner ehemaligen Hamburger Jacobi-Orgel, der sehr schmerzhaft geklungen hat, und der schon im Vorfeld unserer Ankündigung auf unseren "news" für interessante Kommentare von Organisten und einem Orgelbauer gesorgt hat, kann an dieser Stelle nicht ausgelassen werden. Ist es so, fragen wir, dass das Pendel, wenn es einmal ausgeschlagen hat in jene Richtung, die wir sechziger Jahre nennen wollen, nach unheilvoller und sorgenloser

Behandlung historischer Orgeln, ihrer Verstümmelung in aufgewühlter Industrie-Euphorie, trotz Albert Schweitzer und wenigen Stimmen der Forderung nach Maßhaltigkeit, dass nun dieses Pendel umschlägt in Fundamentalismus und radikaler Ausrichtung nach beglaubigter Historizität. Diese aktenmässige, gelehrtenhafte und oft "wissenschaftlich" ausgerichtete Sicht und Methodologie bietet dem Blinden zwar einen Krückstock mit dem er durchs Leben gehen kann, ob es aber als Maßstab fürs Leben gelten kann, das sei zumindest bezweifelt.
Heinz Wunderlich führt aus, dass er Bachs Orgelwerke auf der Hamburger Jakobiorgel im Laufe der Jahre 1976 bis 1982 eingespielt habe und diese auch selbst aufgenommen hat. Diese Einspielungen sind als 3erCD bei organum (Ogm253017) erhältlich und zeigen, dass diese Orgel einen recht warmen Klang besaß mit charakteristischen Einzelstimmen. Diese Orgel macht einen durch und durch harmonischen ausgeglichen Klangeindruck, nach Durchhören aller drei CD's. Natürlich ist das kein Hören der echten Orgel. Nach Wunderlich ist es heute nicht mehr möglich auf dieser Orgel, die von Ahrend 1993 restauriert wurde, die Triosonaten darzustellen, da die Mitteltönige Stimmung dies verhindert. "Das klingt völlig verstimmt". Der Kampf der Orgelbauer Anfang des 18Jh. um Mitteltönige Stimmung und für oder gegen die Temperierte Stimmung fand statt und hat, wie man am kompositorischen Schaffen auch der nach J.S.Bach kommenden Generationen zum Beispiel Johann Ludwig Krebs klar sehen kann, sich zugunsten der Temperierten Stimmung entwickelt. Denn viele Stücke von Krebs können nur unter dieser Stimmung dargestellt werden. Die Änderung der Stimmtonhöhe an der Orgel in St. Jacobi habe dazu geführt, dass durch Anlängen von mehreren cm an kleineren Pfeifen die Mensuren der Orgel geändert wurden. Der Winddruck wurde erhöht, die Kernspalten wurden aufgerissen, die Mixturen klingen brutal. Die gesamte Harmonie der Register innerhalb der Werke ist in der Lautstärke gestört. Wir geben diese bitteren Sätze von Wunderlich wieder, ohne dazu Stellung ziehen zu können, da uns der gesamte Zusammenhang fehlt. Wir möchten aber der Objektivität wegen andere Stimmen dazu sprechen lassen. Dazu bemerkt ein Organist: Die Firma Kemper, welche unter Wunderlich in den Jahren 1960/61 Arbeiten an der Hamburger Jacobi-Orgel vorgenommen hat, hat dies unter Auslassung aller Qualitätsansprüche getan, was in dem Bildband von Heimo Reinitzer dokumentiert ist. (so wurden grundlos die historischen Pfeifenstöcke in handliche Stücke zersägt, spanische Reiter eingeschnitten, die Windladen mit Filzpappe verklebt, Sperrholzleisten zur Stabilisierung der Windladenrahmen angenagelt usw. . Die in den Türmen stehenden Pedalwindladen wurden aus unerfindlichen Gründen durch Kemper um 180° gedreht) Alles dies kann jeder nachvollziehen, der die Arbeiten der Sechziger Jahre kennt, jedoch: "Intonation und Stimmung hatten bei Kemper viel weniger mit dem Original zu tun als bei Ahrend" sind Aussagen, die zu beweisen sind. Hans Henny Jahnn habe berechtigterweise Zweifel an den Fähigkeiten der Firma Kemper gehabt. Wobei hier unterschiedliche Auffassungen mir vorgetragen wurden.
Die einfache Frage nach solch einer Auseinandersetzung wäre, hätte es Ahrend dabei belassen, die "SechzigerJahre" aus der Orgel zu entfernen, also sich in "Gelassenheit" geübt, so wäre das doch der Sache eher entgegengekommen? Denn die Grundfrage ist und bleibt "wurde die bedeutendste historische Orgel in Deutschland nach den unseligen Erfahrungen der Vergangenheit nun mit genau den umgekehrten Mitteln ins klangliche Nirwana befördert, wie es einer der bedeutendsten deutschen Orgelprofessoren sagt ?" Selbst wenn man Wunderlich unterstellt, dass er mit der Auswahl des Orgelbauer Kemper und dessen Arbeit selbst einen Fehler gemacht habe, so kann man doch nicht darüber hinweggehen, dass der klangliche Zustand der Orgel vor der Restaurierung ein homogenes Gefüge dargestellt hat, das allen Ansprüchen, und besonders das der guten und bekannten Autoritäten der Deutschen Orgelmusik Genüge getan hat, so auch Albert Schweitzer, während die Orgel heute nur noch eine sehr begrenzte Literatur darstellen kann. Wurde also im Angesicht der Fehler der Vergangenheit ein noch viel elementarer Fehler begangen, indem man ein historisches Phantom als Vorbild nahm, anstelle der lebendigen Orgelmusik den Platz zu lassen, wie es von Wunderlich in hunderten von gutbesuchten Konzerten praktiziert wurde. Und nun hängt ein totes und lautes Bild an der Wand das keiner mag?
Die Aussage, "da ist aber eine ganz hervorragende Qualität im Spiel", ist so nichtssagend, wie wenn man einem Brandstifter bescheinigt, dass er nur "Super-Plus" beim Anzündeln verwendet, anstelle Normal-Benzin. Eine hohe Qualität ist umfassend und milde, eine hohe Qualität kann nie eine sture und begrenzte Sicht der Welt darstellen. Ein brachialer Klang der auf bestem Pfeifenmaterial und bester Inneneinrichtung basiert, ist ja deswegen immer noch brachial. Umgekehrt kann ich persönlich noch damit leben, wenn eine schöne Harmonie der Register da ist, schöne zarte Klänge da sind, wundervolle Principale auch aus Zink. Schlimbach, Voit und viele Kleinmeister der Deutschen Romantik, da ist leicht handwerklich einiges zu bemängeln, aber der Klang, das ist immer eine stille und anmutige Sensation. Qualität, unter diesem abgenutzten Begriff wie er heute wie als Degen getragen wird, den man jederzeit in den Leib des Gegners rammen kann, wird als etwas Totales und Absolutes gesetzt, das aber bei genauem Hinterfragen, sofort eine Menge weiterer Fragen und Deutbarkeiten aufwirft. Hier ist man bereits fanatisiert, hier ist man schon fundamentalistisch, und setzt etwas als undiskutierbare Tugend voraus, was einem bei genauer Prüfung wie Wasser in der Hand zerrinnt. Dazu, unter Qualität kann man schnell auch ein tolles massives "Hülsta-Schrankwandmodell aus Möbel Martin" verstehen und der heutigen "Designer -Mode" hinterherlaufen in der Meinung es zu tun zu haben mit "Echtem oder Wahrem" und schnell ist da eine Verwechslung mit Historien und Legendenbildung passiert.
Wir denken, eine solch qualifizierte Aussage des Heinz Wunderlich hat bestimmt grundsätzliche Bedeutung. Dies kann nicht einfach zur Kenntnis genommen werden und dann gehts weiter zur Tagesordnung. Oder man feuert sich an, indem man auf die Fehler anderer zurück deutet Hier sollte man nachfragen und nachhaken. Ein Orgelbauer schreibt mir im Vorfeld dieser Auseinandersetzung, dass er einen ähnlichen Fundamentalismus auch bei der Restaurierung von Stumm-Orgeln (Sobernheim) heute empfindet. Dass brutale Klänge Einzug in diese Instrumente halten, während man sich auf archaische, detailgetreue, schmiedeeiserne Nägel konzentrieren würde, und dass die recht "brutalen Restaurierungen" von Orgelbauern der 60er Jahre aber gleichzeitig ein Klangbild bewahrt hatten, das harmonisch und in sich ausgeglichen gewesen sei. Diesen Eindruck den ich ebenfalls so hatte, und der gerade hier an der Jacobi-Orgel in Hamburg durch Wunderlich seine Bestätigung findet. Die heutige Zeit möchte eben im Bewusstsein, eine schnelllebige zu sein, dagegen, am Festklammern kompromissloser Historizität Werte schaffen die langlebig sind und die die Namen der Beteiligten in die Zukunft transportieren. Vielleicht eine exquisite Form von Eitelkeit. Solche Menschen wie Albert Schweitzer, welche die Menschlichkeit als Priorität und dann erst das "Ding" gesetzt haben, haben uns eigentlich alles Wichtige darüber gesagt.
An den Resonanzen abgelesen muss ich aber auch sagen, es ist nicht längst ein Umdenken in andere Richtungen da, sondern es wird in Zukunft mehrere Richtungen geben (auch bei der weitaus geringeren Arbeit im Orgelbau). Die große einheitliche Geschichte im Deutschen Orgelbau scheint mir zu Ende gegangen zu sein. Von nun ab werden nur noch splitterhafte Entwicklungen stattfinden, die auch nicht mehr von einem einheitlichen Kommentar begleitet werden. Der Grund dafür, auch das eine Erfahrung mit Heinz Wunderlich, ist, dass wir eben keine solchen "Giganten" mehr in Gegenwart und Zukunft finden werden.
Der "Genius" ist tot, es lebe der "Genius"!

gwm 21.01.06

siehe hierzu auch "Orgelportrait Wunderlich" [178 KB]